Damit muss endlich Schluss sein

Berichte über das Kopfgeld für "Auslandstürken"

von Gürsel Yildirim

Seit zum Tabuthema Kopfgelderpressung im Jahre 2007 einige Beiträge veröffentlicht wurden, meldeten sich viele der Betroffenen über unsere eMail-Adresse gegen_kopfgelderpressung(at)gmx(punkt)de zu Wort. Wir wollen einige Rückmeldungen dokumentieren, um die Problematik deutlich zu machen. Alle Namen sind geändert.

Offiziell nennt man das Problem der „Auslandstürken“ Bedelli Askerlik, Ersatzleistung für die Wehrpflicht. Lebt ein türkischer Staatsbürger im Ausland, hat er bis zu seinem 38. Geburtstag die Summe von 5.112,92 Euro zu zahlen und drei Wochen unter militärischer Aufsicht in Burdur abzusitzen. Überschreitet er die Altersgrenze von 38 Jahren erhöht sich die Summe für das Freikaufen auf 7.668 Euro. Für über 40-jährige gibt es hin und wieder eine „Amnestie“, wenn sie 10.000 Euro zahlen.

Die Türkei definiert diese Regelung als „Service für Auslandstürken“. Wer diesen „Service“ nicht akzeptiert, gilt jedoch mit 38 Jahren als fahnenflüchtig. Teilt man die Sichtweise des türkischen Staates nicht, empfindet man diese Regelung als einen gewaltigen Erpressungsversuch. Es geht schlicht um ein Kopfgeld. Erpresst werden alle mit türkischer Staatsbürgerschaft, seien sie Kurden, Armenier, Süryanis ...

Wer mit türkischer Staatsbürgerschaft in Deutschland lebt und sich der Zahlung und Ableistung des dreiwöchigen Dienstes verweigert, sich also gegen Bedelli Askerlik entscheidet, muss erleben, dass er trotz langjährigem Aufenthalt in die Illegalität gezwungen wird.

Aber nicht nur das zwingt Betroffene dazu, tausende von Euros auf das Konto des türkischen Militärs zu überweisen. Auch wer sich um Angehörige in der Türkei kümmern will oder einfach nur die Eltern in der letzten Lebensphase begleiten will, sieht sich zur Zahlung genötigt. Andere beschreiben ihre Lebensverhältnisse als Sackgasse, leisten jedoch stillen Widerstand mit ungewissen Konsequenzen und Zukunftsvorstellungen.

„Mit Schuldschein geboren“

Wer glaubte, als Doppelstaater mit einem deutschen Pass das Problem lösen zu können, sah sich getäuscht. Der Doppelpass stempelt die Betroffenen zum „Zwangstürken“. Mustafa N. berichtet:

„Ich wurde 1964 geboren und lebe seit 1967 in Deutschland. Ich bin eingebürgert, aber immer noch Zwangstürke, da ich den Militärdienst nicht abgeleistet habe. 2005 erhielt ich meine Zusicherung auf Einbürgerung und stellte einen Antrag beim türkischen Konsulat, um dort ausgebürgert zu werden. Monate später kam die Ablehnung mit der Begründung, ich solle erst 7.668 Euro zahlen, erst danach werde auf meinen Antrag eingegangen. 2006 versuchte ich es erneut und schrieb direkt nach Ankara. Ich machte auf meine Situation aufmerksam, dass ich von Hartz 4 lebe und nur 553 Euro im Monat zur Verfügung habe und dass ich zudem mit meiner Mutter zusammenlebe, die schwerbehindert und ein Pflegefall ist. Ich kann sie unmöglich alleine lassen und sehe auch keine Möglichkeit, das Geld auf legale Weise zusammenzubringen. Aber das interessierte sie nicht. Aus Ankara erhielt ich die gleiche Antwort.

Nachdem mein Antrag auch von Ankara abgelehnt wurde, ging ich hier aufs Ausländeramt und sprach mit dem Leiter. Er schrieb freundlicherweise einen Brief an das Konsulat, machte auf meine Lage aufmerksam und fragte, ob es denn keinen anderen Weg für eine Ausbürgerung gäbe, zumal ich bereits einen deutschen Pass habe. Darauf hin wurde er vom Konsulat angerufen und ihm gesagt, es gäbe Banken, bei denen ich einen Kredit aufnehmen könnte, um den Betrag zu zahlen. Bei diesen Banken handelt es sich um türkische Banken, die als Sicherheit deine Renteneinlagen verlangen. Sie wollen nur deine Kohle. Als nächstes wird man mir wohl noch sagen: Flieg nach Bombay und verkaufe deine Niere.

Allein bei uns im Ort (einer Kleinstadt) gibt es ungefähr 10 Leute, die mit diesem Problem leben müssen. Und die haben noch keinen deutschen Pass, viele haben keine Arbeit und damit auch keine Aussicht auf Einbürgerung. Hinzu kommt, dass das Konsulat deren Pässe nicht verlängert, womit sie praktisch illegal in Deutschland sind. Dabei sind einige schon über 30 Jahre hier! Ich bin der Meinung, dass wir uns zusammentun müssen. Nur gemeinsam können wir etwas erreichen.

Mir geht es nur darum, diese Art von Abzocke ans Licht zu bringen und sich der Erpressung nicht zu beugen. Es kann doch nicht sein, dass man als Türke mit einem Schuldschein geboren wird!“

„Stellen Sie sich nicht so an“

Im Gegensatz zu Angehörigen der Generale und von reichen Türken erhalten „Auslandstürken“ nicht so einfach eine Untauglichkeitsbescheinigung des Militärs. Atteste von deutschen Kliniken reichen nicht aus. Zur Feststellung der Untauglichkeit müssen sich „Auslandstürken“ den Untersuchungen des Militärkrankenhauses in Ankara unterziehen. In der Praxis scheint dort Willkür und Rücksichtslosigkeit vorzuherrschen. Hier ein Bericht von Aydin T.:

„Ich werde Mitte nächsten Jahres 39 Jahre alt und muss dann meinen Ausweis verlängern. Vor zwei Jahren hatte ich eine schwere Operation, bei der mir zwei Bandscheiben entfernt wurden. Ich habe große Schmerzen und meine Finger sind taub. Viele Nerven wurden zerstört. Darum habe ich große Probleme beim Sitzen, Auto fahren usw. Von einer Klinik ließ ich mir das schriftlich bestätigen und meine Röntgenbilder vorlegen. Das wurde in der Türkei eingereicht, mir aber gesagt, dass ich das Geld trotzdem zahlen müsse. Wie das? Ich verstehe das nicht.

Nach einer Weile erhielt ich den Bescheid, dass ich das Geld überweisen solle. Dabei war ich mir sicher, dass ich nicht zu zahlen habe. Ich rief beim Konsulat an. Sie sagten mir, ich müsse vorbei kommen und ein paar Formulare abholen und ausfüllen lassen. Das tat ich auch. Ich holte die Formulare ab, ließ sie von der Klinik ausfüllen und ins Türkische übersetzen. Das kostete 42 e. Dann reichte ich all das mit Lichtbildern usw. beim Konsulat ein. Ich fragte, wie lange es dauert, bis ich einen Bescheid bekäme und erhielt als Antwort: 6-7 Monate.

In dieser Zeit läuft aber die Frist aus. Ich sagte das und bekam die Antwort: ‚Sie müssen die 5.000 Euro zahlen, sonst sind es 7.500 Euro. Stellen Sie sich nicht so an. Ein Monat ist nichts, das bringt Sie nicht um.’“

„Die Einbürgerungszusicherung wurde nicht verlängert“

Bei all dem wirken die Regelungen in Deutschland auf besondere Weise mit. Die Anforderung für eine Einbürgerung, eine Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft zu erhalten, zwingt die Betroffenen praktisch dazu, das Kopfgeld zu zahlen. Hier ein Bericht von Hasan A.:

„Ich bin 43 Jahre alt und lebe seit 1970 in Deutschland. Mir war es in den letzten Jahren nicht möglich, einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen. Vor zwei Jahren hatte ich endlich die Gelegenheit dazu und erhielt auch eine Zusicherung, allerdings mit der altbekannten Voraussetzung, dass ich zunächst aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen werden müsse. Das war natürlich nicht möglich.

Dann las ich von einer erweiterten Möglichkeit der Einbürgerung und teilte dies der Ausländerbehörde mit. Man erklärte mir, das sei möglich, allerdings sollte ich mich zumindest legitimieren können, also zumindest einen Ersatzausweis haben, um mich einbürgern zu können. Ich fand das unlogisch, stellte aber trotzdem einen Antrag auf Erteilung eines Ersatzausweises. Der Antrag wurde prompt abgelehnt.

Da meine Zusicherung mittlerweile älter als zwei Jahre ist, machte mir der Sachbearbeiter klar, dass er die Zusicherung nicht verlängern werde, da ihm bei der Erteilung ein Fehler unterlaufen sei. Er werde auch keine erneute ausstellen. Die Erteilung einer Zusicherung könne nur erfolgen, wenn es einen gültigen Pass gäbe.“

„Kein Geld + kein Militärdienst = fahnenflüchtig“

Einer besonderen Situation sehen sich Kinder von bi-nationalen Ehen ausgesetzt, die Doppelstaater sind. Sie sind in beiden Ländern wehrpflichtig. Eine Anerkennung der Dienstzeit erfolgt aber nur, wenn der Militär- bzw. Zivildienst in einem Land abgeleistet wurde. Ali T. berichtet:

„Ich habe (leider) beide Staatsbürgerschaften. ‚Leider’ wurde ich in Deutschland ausgemustert, musste also weder Wehr- noch Zivildienst machen. Hätte ich den Dienst in Deutschland abgeleistet, würde er in der Türkei nicht mehr anfallen. Eine Ausmusterung in Deutschland ist hingegen keine Ausmusterung in der Türkei. Die Türkei will Geld von mir. Das ist wohl der wahre Grund, warum alles anders lief. Für mich gilt: Kein Geld + kein Militärdienst = fahnenflüchtig = keine Ausbürgerung = keine Einreise in die Türkei. Es tut mir leid, dass ich meine Verwandtschaft in der Türkei nicht mehr sehen kann.“

„Wunde in meiner Seele“

Ähnlich wie Ali T. erging es auch Alexander P. Er schildert, wie sehr es ihn schmerzt, nicht mehr in die Türkei reisen zu können:

„Ich bin mittlerweile 44 Jahre alt und seit meiner Geburt Doppelstaater. Da ich sehr jung Vater wurde, wurde ich in Deutschland von der Ableistung des Wehrdienstes befreit. Das wird aber in der Türkei nicht anerkannt.

Bis heute hatte ich nicht die finanziellen Mittel, um die geforderte „Kopfprämie“ zu zahlen und auch nicht die Möglichkeit, hier alles stehen und liegen zu lassen, um mal kurz in einer türkischen Kaserne zu verschwinden. Ich war damit beschäftigt, meine Familie zu ernähren und mein Leben aufzubauen. Außerdem bin ich extrem antinationalistisch. Es fehlt mir jede Einsicht, ich könnte irgendwelche Verpflichtungen dem türkischen Regime gegenüber haben.

Ich lebte viele Jahre in Istanbul, sah aber mit 17 Jahren dort keine Zukunftsperspektiven für mich. Es gab kein geregeltes Ausbildungssystem, kein pädagogisch ausgearbeitetes Schulsystem, keine Aufklärung über die Möglichkeiten, wie ich mir eine Zukunft aufbauen kann. Das sind meiner Meinung nach aber die Pflichten eines Staates den Bürgern gegenüber. Ich war sehr verbittert und verließ die Türkei.

Doch mittlerweile, nach so vielen Jahren, musste ich feststellen, dass hier eine Wunde in meiner Seele entstanden ist, die nicht zu heilen vermag. Ich fühle mich ausgesperrt. Je älter ich werde, desto mehr packt mich die Sehnsucht nach meinem Istanbul, nach meinen Freunden, die ich zurückließ, nach meinen Kindheitserinnerungen in den Straßen, in denen ich aufwuchs. Ich möchte ja nur ab und zu mal hinfahren und die Luft riechen.

Warum ich Ihnen das schreibe? Ich glaube, Sie gehen meinen Weg! Dieser wird nicht einfach und ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.“

„Damit muss endlich Schluss sein“

Mitte Dezember 2008 beschloss das niederländische Parlament eine weitergehende Regelung zur Frage der Einbürgerung. Damit wird eine doppelte Staatsbürgerschaft dann toleriert, wenn die Betreffenden Militärdienst erfüllen müssten oder zur Zahlung einer Freikaufssumme verpflichtet sind. Die positive Entwicklung in den Niederlanden löste allerdings andernorts keine Reaktionen aus. Das Thema wird sowohl von vielen Verbänden, wie auch von Politikern ignoriert. Letztlich wird kaum jemand Notiz von der Problematik nehmen, so lange sich die Betroffenen nicht selbst zu Wort melden und gemeinsam Forderungen stellen.

Die Evrensel berichtete am 24.12.2008 in der Europaausgabe darüber. S. Karabulut schrieb: „Es könnte eine europaweite Kampagne organisiert werden, weil dies wirklich ein ernsthaftes Problem darstellt. Als ich kürzlich bei einer Veranstaltung das Thema einbrachte, erklärten die Teilnehmer ihre Betroffenheit und unterstützten mich dabei. (...) Diese Regelung passt nicht in die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Ich werde sie anprangern. Bisher konnte uns niemand die Vorteile dieser Regelung erklärten. Es wird weitergemacht, weil es eine Geldquelle ist. Aber damit muss endlich Schluss sein.“

Unser Hauptanliegen bleibt: Eine breite Kampagne gegen Kopfgelderpressung.

Kontakt: gegen_kopfgelderpressung(at)gmx(punkt)de

Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2009

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