Besuch in der Türkei

Ein Bericht

von Rudi Friedrich

Der Hörsaal in der Bilgi Universität in Istanbul war gut gefüllt. Etwa 400 TeilnehmerInnen kamen zur Internationalen Konferenz zur Kriegsdienstverweigerung (Programm), die am 27. und 28. Januar 2007 stattfand. Für Connection e.V. berichtet Rudi Friedrich, der aus diesem Anlass in die Türkei gefahren war.

Die Diskussion ist eröffnet

In den letzten beiden Jahren hatten sich die Ereignisse gehäuft und die Situation zugespitzt. Die Kriegsdienstverweigerung wird von der Türkei nicht akzeptiert und so haben Verweigerer mit Einberufung und Strafverfahren zu rechnen. Dennoch sind nur wenige der etwa 50 Verweigerer, die ihre Haltung öffentlich gemacht hatten, inhaftiert worden. Die Türkei vermied damit, dass die Kriegsdienstverweigerung bekannt wurde. Die Selbstzensur der türkischen Medien trug zusätzlich dazu bei.

Im April 2005 spitzte sich die Situation jedoch zu. Zunächst war der Kriegsdienstverweigerer Mehmet Tarhan verhaftet, während der Haft misshandelt und im August des Jahres zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Für Tarhan wurde eine internationale Solidaritätskampagne gestartet. In einer türkischen Tageszeitung erschien eine Anzeige, die von 30 Organisationen aus aller Welt unterzeichnet worden war, international besetzte Delegationen reisten zu seinem Prozess, ein Aktionstag wurde initiiert und eine Postkartenkampagne gestartet.

Im Januar 2006 sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke eine Entschädigung zu. Er war von 1996 bis 1999 acht Mal wegen seiner Kriegsdienstverweigerung verurteilt und insgesamt 701 Tage inhaftiert worden. Im Anschluss wurde er zwar freigelassen, da aber die Wehrpflicht in der Türkei erst nach Ableistung des Militärdienstes erlischt, kann er jederzeit erneut einberufen werden, womit der Kreislauf von Verweigerung und Strafverfolgung erneut beginnen würde. Deshalb sind ihm alle zivilen Rechte verwehrt. Er kann keinen Pass beantragen, kein Konto eröffnen, sich nicht versichern, nicht ins Ausland reisen. Er muss jeden Kontakt mit den türkischen Behörden vermeiden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnete seine Situation daher als "zivilen Tod". Das Urteil des Gerichts sorgte dafür, dass die türkischen Medien zum ersten Mal seit langer Zeit wieder über das Thema Kriegsdienstverweigerung berichteten.

Im März 2006 wurde Mehmet Tarhan vorzeitig aus der Haft entlassen. Dazu beigetragen haben sowohl die internationalen Aktivitäten wie auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Der Prozess wurde gleichwohl fortgesetzt.

Im Juni 2006 begann ein Prozess gegen die Autorin Perihan Magden, mit dem sie nach Artikel 318 des türkischen Strafgesetzbuches wegen "Distanzierung des Volkes vom Militär" angeklagt wurde. In dem von der Anklage vorgelegten Artikel schrieb sie, dass die Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht ist und stellte die Wehrpflicht in Frage. Nach internationalen Protesten wurde sie Ende Juli 2006 freigesprochen.

Am 27. September 2006 forderte das Europäische Parlament (P6_TA(2006)0381) die Türkei auf, Artikel des Strafgesetzbuches, wie Artikel 318, zu ändern und die Presse- und Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Das Parlament zeigte sich auch "betroffen darüber, dass ein Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nach einer jüngsten Entscheidung des türkischen Militärgerichtshofes zu einer Haftstrafe verurteilt wurde" und "erinnert die Türkei daran, dass das Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wird".

Im Oktober 2006 wurde Mehmet Tarhan zu 25 Monaten Haft verurteilt. Da er selbst nicht zum Prozess erschien und sich von seiner Rechtsanwältin vertreten ließ, wurde er nicht verhaftet.

Im Oktober 2006 wurde in Istanbul das Bündnis zur Kriegsdienstverweigerung gegründet. Ein weiterer türkischer Kriegsdienstverweigerer, Halil Savda, wurde Vorsitzender des Bündnisses.

Im Dezember 2006 wurde Halil Savda verhaftet, als er zu einem Militärgerichtsverfahren in Corlu, Türkei, erschien, wo er wegen "Beharren auf Ungehorsam" angeklagt ist. Im Januar 2007 wurde er am zweiten Verhandlungstag vom Gericht aus der Haft entlassen, aber sofort seiner Einheit überstellt. Einer erneuten Aufforderung, eine Uniform anzuziehen kam er nicht nach, womit er nun zwei Mal wegen "Beharren auf Ungehorsam" angeklagt ist. Kurz darauf wurde er von Wachhabenden in der Haft schwer misshandelt. Das wurde wenige Tage nach der Konferenz bekannt.

Eine Konferenz am Rande der türkischen Legalität

Die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre nahmen die OrganisatorInnen der Konferenz, angeführt vom Menschenrechtsverein in Istanbul, zum Anlass, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und inhaltlich zu vertiefen. Dank eines Zuschusses der Bewegungsstiftung war es uns möglich, die Durchführung der Konferenz finanziell zu unterstützen. Ziel der Konferenz war, insbesondere die türkische Regierung dazu zu drängen, endlich das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen.

So war die Konferenz darauf angelegt, zunächst die Situation für Kriegsdienstverweigerer in anderen Ländern zu hören, wozu ich gemeinsam mit Andreas Speck von der War Resisters International beitrugen: mit Berichten zu Griechenland, Südafrika und Paraguay. Ergänzt wurde dies durch Beiträge aus Israel und der Türkei. In weiteren Plena wurde über die Geschichte von Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung informiert, Kriegsdienstverweigerung als eine Form der Kritik des Patriarchats und Sexismus diskutiert und der Zusammenhang mit Antimilitarismus deutlich gemacht. Am Ende der Konferenz stand die Frage, wie die Kriegsdienstverweigerung in internationalen Organen diskutiert wird und ob sich ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei auf Grundlage der bestehenden Verfassung verwirklichen ließe.

Die Konferenz war gut besucht, obwohl nicht öffentlich dazu eingeladen worden war. Das hatte seinen Grund. Die OrganisatorInnen hatten die Sorge, dass zu viel Öffentlichkeit das türkische Militär auf den Plan rufen könnte und damit die Durchführung der Konferenz verboten werden könnte. Allerdings hatte dies auch zur Folge, dass es nicht wirklich gelang, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Auch die Presseresonanz blieb hinter den Erwartungen zurück, obwohl z.B. am ersten Abend in verschiedenen Fernsehkanälen darüber berichtet wurde.

Die OrganisatorInnen verzichteten zudem bewusst darauf, eine Abschlussresolution anzustreben. Sie wollten damit die Diskussion offen halten und vermutlich auch eine Spaltung der Anwesenden vermeiden, die mit sehr unterschiedlichen Erwartungen und Vorstellungen zur Konferenz gekommen waren.

Verblüffend war zu sehen, dass die konkrete Situation des zu der Zeit inhaftierten Halil Savda kein Thema war. Es war zwar noch nicht bekannt, dass er zwei Tage vorher in der Haft schwer misshandelt worden war, aber oft war die Inhaftierung ein Anlass für die Solidaritätsgruppen gewesen, aktiv zu werden.

Thema Kriegsdienstverweigerung inhaltlich vertiefen

Mit der Konferenz gelang es tatsächlich, einige politische Hintergründe für die Kriegsdienstverweigerung zu thematisieren und inhaltlich zu vertiefen. So beeindruckte ein Beitrag des niederländischen Professors Erik Jan Zürcher, der über die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung und Desertion im Osmanischen Reich und in der Türkei referierte. Er machte darauf aufmerksam, dass dies keineswegs ein neues Phänomen ist, sondern sich schon bei früheren Kriegen Tausende dem Kriegsdienst entzogen hatten. So habe es 1918 über eine halbe Millionen Deserteure gegeben.

Ausführlich thematisiert wurde auch die Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft. So machte die in Istanbul an der Universität lehrende Ayse Gül Altinay deutlich, wie der Mythos, das türkische Militär sei Garant für die türkische Nation, maßgeblich geworden sei und der Militärdienst als ein wesentlicher Bestandteil der männlichen Identität in der Türkei angesehen werde.

Dass diese Vorstellung tatsächlich auch weit in die linken Kreise hinein verbreitet ist, wurde an einem Wortbeitrag des in Izmir tätigen Professors Taha Parla deutlich. Auf Nachfrage sah er durchaus keinen Widerspruch seiner antimilitaristischen Haltung und seiner Heroisierung von bewaffneten Widerstandskämpfen z.B. in Algerien oder in Vietnam. Mann sein heißt für viele eben doch mit Waffen zu kämpfen. Nur wenige stellen dies wirklich in Frage.

So hätte es manchen Punkt gegeben, der zu einer intensiven Diskussion hätte führen können. Dafür blieb allerdings kaum Zeit. Erst am Ende der Konferenz war eine längere Debatte vorgesehen, die sich aufgrund der vorherigen Beiträge zum internationalen Recht und den Möglichkeiten der Umsetzung eines Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung genau auf diese Fragen beschränkte.

Es war sehr klar, dass z.B. die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Staaten mit einer Wehrpflicht das Recht zubilligt, einen Ersatzdienst einzuführen. Der am Verfassungsgericht in Ankara tätige Jurist Osman Can führte dann aus, wie diese Forderung mit dem gültigen Verfassungsrecht der Türkei in Einklang zu bringen sei. So sehe die Verfassung einen verpflichtenden Nationaldienst vor, es sei aber nicht definiert, wie dieser auszusehen habe. Er könnte also ebenso gut als Ersatzdienst abgeleistet werden.

Der aus Großbritannien stammende Rechtsanwalt Kevin Boyle, der Osman Murat Ülke vor dem Europäischen Gerichtshof vertreten hatte, meinte gar, dass es dann für die Türkei auch darum gehen könne, über eine allgemeine Dienstpflicht nachzudenken, da die türkische Verfassung schließlich die Ableistung eines Nationaldienstes für alle – und nicht nur für Männer vorsehe.

Ehrlich gesagt, es grauste mir ob dieser Argumente. Am Ende war ich wirklich froh, dass sich einer der Kriegsdienstverweigerer selbst zu Wort meldete. Mehmet Tarhan machte in seinem Beitrag deutlich, dass er keineswegs bereit sei, einen Ersatzdienst zu akzeptieren. "Wenn ich einen Dienst für die Gesellschaft leiste, dann werde ich selbst bestimmen, worin dieser besteht und wie lange ich diesen leisten werde. Das lasse ich mir von niemandem vorschreiben."

Auch wenn derzeit überhaupt keine Aussicht darauf besteht, dass die türkische Regierung bzw. das türkische Militär irgendeine Regelung zur Kriegsdienstverweigerung einführen wird, so gehen trotzdem alle davon aus, dass sie irgendwann kommt. Viele der direkt Betroffenen sehen sich jedoch als Totalverweigerer und sind nicht bereit, der Wehrpflicht in anderer Art und Weise nachzukommen. Es gibt zudem die Befürchtung, dass ein Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung die Situation für die Totalverweigerer noch verschlechtern würde und sich somit ein Gesetz gegen die aktiven Verweigerer in der Türkei wendet. Darüber hinaus würde dies viele betreffen, die sich auch der Ableistung der Wehrpflicht entzogen haben, aber nicht öffentlich aufgetreten sind und auch nicht bei der Konferenz anwesend waren: etwa drei- bis vierhunderttausend Militärdienstentzieher. Die Fragestellung, wie der Militarisierung in der türkischen Gesellschaft ein antimilitaristischer Widerstand entgegengesetzt werden kann, blieb offen.

Möglicherweise hätten aus den vorherigen Beiträgen Ansätze dazu entwickelt werden können. Schade, dass kein Raum dazu blieb. Es bleibt zu hoffen, dass eine Dokumentation der Beiträge dies zumindest zum Teil auffangen kann.

Dennoch: Die Diskussion ist eröffnet. Die Beiträge der ReferentInnen aus der Türkei, wie auch die Zahl der TeilnehmerInnen an der Konferenz zeigt, dass es ein breiteres Interesse an der Aktionsform Kriegsdienstverweigerung gibt und es nicht mehr ausschließlich auf einige wenige AktivistInnen beschränkt ist.

Treffen mit dem Bündnis für Kriegsdienstverweigerung

Am Montag nach der Konferenz trafen sich einige internationale Gäste und Aktive aus der Türkei beim Menschenrechtsverein in Istanbul, um hier die praktische Zusammenarbeit zu besprechen. Die ausländischen Gäste machten deutlich, dass auf internationaler Ebene ein großes Bedürfnis besteht, schnell und fundiert informiert zu werden. Berichte über Gerichtsverfahren, z.B. gegen Halil Savda, sollten über die eMail-Verteiler möglichst noch am gleichen Tag anderen zur Verfügung stehen. Es sollte klar sein, wer in der Türkei Ansprechpartner ist. Dies sei ein wichtiger Baustein für jede internationale Kampagne.

Für das Bündnis für Kriegsdienstverweigerung gibt es hingegen ganz praktische Fragen. Wer kann die Informationen möglichst schnell ins Englische übersetzen? Wer ist für die internationalen Kontakte verantwortlich? Wie kann die Arbeit in der Türkei finanziert werden? Und schließlich auch: Was ist das Ziel des Bündnisses?

Es gibt noch viele offene Fragen. Auf dem Treffen wurden verschiedene Vorschläge eingebracht, wie von Organisationen außerhalb der Türkei die Arbeit im Land unterstützt werden kann. Es war ein klares Signal, dass es daran großes Interesse aus den verschiedensten Ländern gibt.

Trostlose Situation nach Abschiebung

Ende des letzten Jahres waren zwei türkische Verweigerer aus der Gruppe der Initiative der kurdisch/türkischen KriegsgegnerInnen in Deutschland abgeschoben worden. In einem Fall wurde die komplette Familie aus dem Kirchenasyl herausgeholt, im anderen Fall fand die Abschiebung trotz einer von uns eingereichten Petition beim Bundestag statt. Beide hatten in der Türkei schon früher ihren Militärdienst abgeleistet, so dass ihnen zumindest keine Einberufung droht. Die von den beiden vorgelegten Unterlagen, wonach gegen sie Anklagen wegen "Beleidigung des Militärs" anhängig sind, wurden von den deutschen Behörden als Fälschung angesehen. Wir sind anderer Auffassung, haben aber bislang nicht die Möglichkeit gehabt, das Gegenteil nachzuweisen.

Bei einem Treffen in Istanbul wurde deutlich, dass beide unter prekären Verhältnissen bei Verwandten in Istanbul untergekommen sind. Da Haftbefehle gegen sie vorliegen, wagen sie es nicht, Ausweise zu beantragen. Zudem ist völlig unklar, wie der Stand der Verfahren nach Artikel 159 ist.

Wir vereinbarten, dass wir gemeinsam mit türkischen RechtsanwältInnen und amnesty international versuchen wollen, hier Klarheit zu erreichen und zu klären, wie in den beiden Verfahren weiter vorgegangen werden sollte.

Besuch bei Osman Murat Ülke

Im Anschluss reiste ich nach Izmir, um Osman Murat Ülke zu besuchen. Er zeigte sich enttäuscht darüber, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofes bislang nicht dafür gesorgt hat, dass sich an seiner prekären Situation etwas geändert hat. Es ist ein zähes Ringen mit dem türkischen Staat und Militär. Da tut die Verleihung der Clara-Immerwahr-Auszeichnung durch die IPPNW durchaus gut. Er freut sich diese Anerkennung zu erhalten.

Antimilitaristischer Widerstand tut Not

Immer wieder zeigt sich die Türkei als ein in höchstem Maße militarisierter Staat. Es gibt auch keine ernsthaften Anzeichen dafür, dass das Militär die Kriegsdienstverweigerung anerkennen will und die Strafverfolgung gegen AntimilitaristInnen beendet. Angesichts dessen ist es eigentlich erstaunlich, wie eine kleine Gruppe von AntimilitaristInnen immer wieder Möglichkeiten findet, Widerstand zu organisieren und dafür auch zunehmend Unterstützung von anderen Gruppen in der Türkei erhält. Der Widerstand im Land tut Not, aber er braucht weiter internationale Unterstützung.

Angeregt durch die Konferenz werden bereits die ersten Schritte unternommen. Das Alarmnetz funktioniert, wie sich an den bereits per eMail aus der Türkei zugesandten Informationen zur Situation von Halil Savda erkennen lässt. Es wird überlegt, Delegationen zu den Prozessterminen zu entsenden und dies mit Öffentlichkeitsarbeit zu verbinden. Gruppen in Spanien wollen Aktive aus der Türkei einladen.

 

Programm der Internationalen Konferenz zur Kriegsdienstverweigerung, 27. und 28. Januar 2007 (türkisch und englisch)

Der Beitrag erschien in: Connection e.V. und AG "KDV im Krieg" (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, März 2007.

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