Aserbaidschan: Verhaftung eines Jugendaktivisten wirft Schlaglicht auf fehlende Regelung zur Kriegsdienstverweigerung

von Sarah Paulsworth

Sarah Paulsworth von der Universität Pittsburgh (USA) schreibt über den mangelnden Schutz von Kriegsdienstverweigerern in Aserbaidschan und die fehlende Alternative zum Militärdienst mit Blick auf die internationale Gesetzgebung.

Über den inhaftierten Aktivisten – Situation der Kriegsdienstverweigerer

Am 4. März 2011 wurde ein in Aserbaidschan gut bekannter Aktivist und ehemaliger Kandidat für das Parlament, Bakhtiyar Hajiyev, verhaftet, da er sich der Wehrpflicht entzogen hatte. Er wurde zu einem Monat Untersuchungshaft verurteilt. Nach einer handschriftlichen Aufzeichnung, die er aus der Haft heraus Freunden zuspielen konnte, wurde Hajiyev am Anfang seiner Haft geschlagen und beleidigt, ihm wurde Vergewaltigung angedroht und eine medizinische Behandlung verweigert. In seinem Brief merkt Hajiyev auch an, dass er einen Hungerstreik begonnen habe (den er inzwischen wieder beendete) und an Selbstmord denke. Hajiyev hatte kürzlich gegenüber Vollzugsbeamten und Vertretern des Militärs, die ihn seit November 2010 schikanieren, erklärt, dass er sein Recht ausüben und einen alternativen Dienst als Ersatz für den traditionellen Militärdienst ableisten wolle, ganz in Übereinstimmung mit der Verfassung Aserbaidschans. Hajiyevs Haft wirft ein Schlaglicht auf ernsthafte Mängel der Gesetzgebung Aserbaidschans in Bezug auf Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung.

Kriegsdienstverweigerer sind Personen, die aus religiösen oder anderen Überzeugungen die Ableistung des Militärdienstes verweigern. Unter ihnen sind Religionsangehörige wie die Zeugen Jehovahs auf der einen Seite und auf der anderen Personen wie Hajiyev, die aus anderen Gründen, z.B. pazifistischen, verweigern. Neben Hajiyev gab es in der letzten Zeit einige andere Fälle von Kriegsdienstverweigerern, die verhaftet wurden oder sogar im Gefängnis waren. Nach Angaben der Plattform Forum 18, die über die religiösen Freiheiten wacht, lehnte das Oberste Gericht Aserbaidschans am 25. Januar diesen Jahres den Antrag des zu neun Monaten Haft verurteilten Zeugen Jehovah Farid Mammedov ab. Er war wegen Entziehung vom Militärdienst verurteilt worden und verbüßt seine Strafe in einem Arbeitslager. Das Oberste Gericht bestätigte im Dezember 2010 auch die Verurteilung von Mushfig Mammedov (nicht verwandt mit Farid Mammedov) in einem ähnlichen Fall. Mushfig Mammedov und Samir Huseynov, der ebenfalls wegen Entziehung vom Militärdienst verurteilt worden ist, haben eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet (14604/08).

Rechtliche Situation von Kriegsdienstverweigerern

In Aserbaidschan sind alle männlichen Bürger zwischen 18 und 35 Jahren verpflichtet den Militärdienst von einer Länge zwischen ein und eineinhalb Jahren abzuleisten, soweit sie tauglich sind. Nach Artikel 76(II) der Verfassung „ist die Ableistung eines alternativen, statt des regulären Militärdienstes erlaubt, wenn die Überzeugungen eines Bürgers in Konflikt mit dem Dienst in der Armee stehen, soweit dies das Gesetz regelt“. Parallel dazu wird in Artikel 48 der Verfassung die Gewissensfreiheit aller Bürger garantiert. Die Anklagen wegen Entziehung von der Wehrpflicht erfolgten auf Grundlage des Artikel 321 des Strafgesetzbuches Aserbaidschan, das in Friedenszeiten für diese Straftat eine Haft von bis zu zwei Jahren und in Kriegszeiten eine Haft von drei bis zu sechs Jahren vorsieht.

Vor 2002 gab es in der Verfassung keine Regelung zum alternativen Dienst. Aserbaidschan ergänzte sie entsprechend der Vorgaben zum Beitritt zum Europarat. Insbesondere unterlag Aserbaidschan damit der Verpflichtung, ein Gesetz zum alternativen Dienst zu verabschieden und alle Kriegsdienstverweigerer zu amnestieren. Obwohl jedoch Aserbaidschan die Verfassung änderte, wurden keine weiteren eindeutigen Schritte eingeleitet, um klarzustellen, wer einen alternativen Militärdienst ableisten kann, unter welchen Umständen, und was der alternative Dienst umfasst. Das Militärgesetz Aserbaidschans (Hərbi Xidmət Haqqında Azərbaycan Respublikasinin Qanunu) enthält keine Regelungen zum alternativen Dienst und es gibt auch keine Beschreibung in anderen Gesetzen. In der Zwischenzeit wird die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern, wie bei Hajiyev, fortgesetzt, womit Aserbaidschan seit einem Jahrzehnt die Verpflichtungen des Europarates verletzt wie auch die Vorgaben der internationalen Gemeinschaft.

Internationale Standards

Die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern in Aserbaidschan steht im Widerspruch zum Recht auf Gewissensfreiheit, das in einer Reihe von internationalen Menschenrechtsabkommen garantiert wird, die Aserbaidschan ratifiziert hat, darunter dem Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte und Artikel 18 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte. In der Vergangenheit haben einige Experten aus dem Artikel 8 des Internationalen Paktes geschlossen, dass ein verpflichtender Militärdienst für Kriegsdienstverweigerer rechtmäßig sei, da der Artikel zwar Zwangsarbeit verbiete, aber nicht im Zusammenhang mit „jeder Dienstleistung militärischer Art sowie in Staaten, in denen die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt wird, jeder für Wehrdienstverweigerer gesetzlich vorgeschriebenen nationalen Dienstleistung“. Aber in zwei Fällen von südkoreanischen Kriegsdienstverweigerern (CCPR/C/88/D/1321-1322/2004) erklärte das UN-Menschenrechtskomitee, dass Artikel 8 „das Recht auf Kriegsdienstverweigerung weder anerkenne noch ausschließe“. Es entschied daher auf Grundlage des Artikel 18 des Paktes, dass die Verurteilung und Strafverfolgung von Kriegsdienstverweigerern „eine Einschränkung ihrer Möglichkeiten darstelle, ihren Glauben oder ihre Überzeugung auszudrücken“.

Desweiteren erinnerte die UN-Menschenrechtskommission in ihrer Resolution 1998/77 Staaten mit einer Wehrpflicht daran, einen alternativen Dienst für Kriegsdienstverweigerer vorzusehen, „der einen zivilen oder waffenlosen Charakter besitzt, der im öffentlichen Interesse liegt und keinen Strafcharakter hat“. Auf der Grundlage dieser Menschenrechtsvereinbarungen, UN-Entscheidungen und Resolutionen, stellt die Verfolgung von Bakhtiyar Hajiyev und anderen Verweigerern, die als Ersatz des Militärdienstes einen alternativen Dienst ableisten wollen, einen klaren Bruch der Verpflichtungen Aserbaidschans gegenüber der internationalen Gemeinschaft dar, die Freiheit des Gewissens sicherzustellen.

Die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern durch Aserbaidschan steht auch in Widerspruch zu Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Gewissensfreiheit umfasst. Als Mitglied des Europarates hat Aserbaidschan die positive Verpflichtung die in der Menschenrechtskonvention festgelegten Rechte zu respektieren und umzusetzen. Zudem verlangt der Europarat von neuen Mitgliedsstaaten mit Wehrpflicht, darunter auch von Aserbaidschan, eine Gesetzgebung zu verabschieden, mit der Kriegsdienstverweigerer einen alternativen Dienst ableisten können. Unzweideutig hat Aserbaidschan sich dieser Verpflichtung während seines Beitritts unterworfen.

Ergänzend dazu ersuchte die Parlamentarische Versammlung des Europarates mit der Empfehlung 1518 das Ministerkomitee darum, andere (ältere) Mitgliedstaaten dazu zu zwingen, eine Gesetzgebung zu verabschieden, damit Kriegsdienstverweigerer von der Verpflichtung zur Ableistung eines Militärdienstes ausgenommen werden und statt dessen einen alternativen Dienst einzurichten.

Europas problematische Rechtsprechung

Interessanterweise hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, trotz des durch die internationalen und europäischen Menschenrechtsinstrumente geforderten Schutzes von Kriegsdienstverweigerern, wie auch die nun nicht mehr existierende Europäische Kommission für Menschenrechte, alles andere als eine klare Position zur Frage des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Das hat die vollständige Umsetzung der Gewissensfreiheit bei Mitgliedsstaaten des Europarates, wie im Falle von Abkhtiyar Hajiyev durch Aserbaidschan, ernsthaft untergraben.

In den Urteilen Grandrath gegen Deutschland (1966) und X gegen Österreich (1973) stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Staaten frei in ihrer Entscheidung seien, ob Kriegsdienstverweigerer vom Militärdienst auszunehmen sind oder nicht. Im Falle Ülke gegen Türkei behandelte der Gerichtshof den Fall eines Kriegsdienstverweigerers unter dem Artikel 3 der Konvention, also dem Verbot der Folter, und stellte eine Verletzung fest angesichts mehrmaliger Verurteilungen und der Tatsache, dass der Antragsteller nicht aus dem Militärdienst entlassen worden war, auch nicht nach Verbüßung der Haftstrafe. Der Gerichtshof nahm aber Abstand davon, eine Entscheidung nach Artikel 9 der Konvention zu treffen. Daher ist der Fall nur begrenzt anwendbar (wenn überhaupt) auf Fälle wie die von Hajiyev, bei denen Antragsteller wegen ihrer Überzeugungen verurteilt, aber noch nicht mehrfach bestraft wurden.

Diese Rechtsprechung beunruhigt, aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte dies bei Bayatyan gegen Armenien ändern, einem Fall, über den die Große Kammer des Gerichts bald entscheiden wird.

Im Oktober 2009 urteilte eine (untergeordnete) Kammer des Gerichtshofes, dass das Gericht seinen Fall nach Artikel 9 bewerte. Aber die Entscheidung überraschte. Die Kammer erklärte, dass Artikel 9 „klar jedem Mitgliedsstaat die Wahl lasse, die Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen“. Und es ergänzte: „Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 3(b) [Verbot des Zwangsdienstes außerhalb der Wehrpflicht] garantiert nicht das Recht auf Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen“. Diese Entscheidung wurde stark kritisiert und steht in direktem Gegensatz zu den Verpflichtungen durch die Vereinten Nationen, der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Prinzipien, die der Europarat selbst seinen Mitgliedsstaaten verkündet und auferlegt hat.

Im Mai 2010 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte den Fall angenommen, so dass die Entscheidung zu Bayatyan noch nicht rechtskräftig ist. Nach der abweichenden Meinung von Richterin Ann Power hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Konvention nicht als „gewachsenes Instrument“ interpretiert. In diesem Sinne, selbst wenn Artikel 9 und 4 Absatz 3b den Staaten gestatten würde, keine Ausnahme vom Militärdienst durch Kriegsdienstverweigerer vorzusehen, sollte das Verständnis im Zusammenhang mit den aktuellen Beschlüssen der Vereinten Nationen und den Aktivitäten des Europarates gesehen werden und so in Übereinstimmung gebracht werden mit bestehenden Standards. In Ergänzung dazu – und in Übereinstimmung mit der Position der Richterin Elisabet Fura -, könnte der Fall auch in einen Zusammenhang mit den von Armenien während der Beitrittsverhandlungen mit dem Europarat abgegebenen Erklärungen gestellt werden. Denn nach einem Urteil zu Atomtests des Internationalen Gerichtshofes können sich bindende Verpflichtungen aus den Erklärungen von offiziellen Vertretern des Staates heraus ergeben. Und während der Beitrittsverhandlungen zum Europarat hatte Armenien Erklärungen abgegeben, in denen das Land sich klar selbst verpflichtete, einen alternativen Dienst vorzusehen. Nach internationalem Recht können „solche Erklärungen die Folge einer rechtlichen Verpflichtung haben“.

Ähnlich könnte im Falle Aserbaidschans festgestellt werden, dass es noch ausstehende Verpflichtungen aufgrund von Erklärungen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen gibt. Das könnte relevant werden für den Fall von Hajiyev, da Aserbaidschan bis jetzt noch keine Gesetzgebung zum alternativen Dienst verabschiedet hat. Im Gegensatz dazu hat Armenien 2003 Gesetze eingeführt, als der Rechtsstreit von Bayatyan bereits anhängig war.

Schließlich scheinen weitere wichtige Erwägungen der Großen Kammer, welche Dokumente zur Grundlage der Entscheidung herangezogen werden, in dem Verfahren von Bayatyan relevant zu sein. In dem Beschluss von Oktober 2009 schloss der Europäische Gerichtshof den Internationalen Pakt aus, an den Armenien gebunden ist. Aber es befasste sich mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, an die Armenien nicht gebunden ist, da nicht Mitglied der Europäischen Union.

Ergänzend dazu könnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch die Allgemeine Stellungnahme (General Comment) 22 des Menschenrechtskomitees zu Artikel 18 des Internationalen Paktes heranziehen, wie auch die Resolution 1998/77 der UN-Menschenrechtskommission und die Entscheidungen CCPR/C/88/D/1321-1322/2004. In der Allgemeinen Stellungnahme 22 sagt das Menschenrechtskomitee: „Der Pakt benennt nicht explizit das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, aber das Komitee ist der Auffassung, dass solch ein Recht dem Artikel 18 entnommen werden kann, da die Verpflichtung tödliche Gewalt anzuwenden in ernsthaftem Konflikt mit der Gewissensfreiheit und dem Recht auf Ausübung der eigenen Religion oder Überzeugung stehen kann“.

Wegen der Unstimmigkeiten zwischen den internationalen Standards und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Kriegsdienstverweigerung, könnte die Entscheidung des Gerichtshofes zu Bayatyan ernsthafte Folgen für Mitgliedsstaaten wie Aserbaidschan haben, die an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden sind, aber weiter Kriegsdienstverweigerer verfolgen. Die Große Kammer sollte von der Entscheidung der Kammer abweichen und die international akzeptierte Sichtweise aufnehmen, dass eine Ausnahme von der Ableistung des traditionellen Militärdienstes als Teil der Gewissensfreiheit für Kriegsdienstverweigerer angesehen wird. Aber auch, wenn sie nicht in dieser Weise entscheidet: Die Entscheidung des UN-Menschenrechtskomitees im Fall Südkorea und der Auftrag durch den Europarat, dass Mitgliedsstaaten die Möglichkeit eines alternativen Dienstes vorsehen sollen, sollten die führenden Prinzipien für das Verfahren sein, das der Verhaftung und Verurteilung von Bakhtiyar Hajiyev folgt.

Schlussfolgerungen

1. Aserbaidschan muss in der Zukunft sicherstellen, dass die Verpflichtungen der internationalen Gemeinschaft erfüllt werden und Kriegsdienstverweigerer einen alternativen Dienst ableisten können. Es sollte so bald wie möglich ein Gesetz zum alternativen Dienst verabschieden und in Kraft setzen und bis dahin die Verfolgung und Inhaftierung von Kriegsdienstverweigerern aussetzen.

2. Parallel dazu muss die internationale Gemeinschaft Aserbaidschan dazu ermutigen, dass Aserbaidschan den internationalen Verpflichtungen zur Kriegsdienstverweigerung nachkommt. Die Große Kammer muss sicherstellen, dass die Entscheidung im Fall Bayatyan in Übereinstimmung mit internationalen Standards getroffen wird, die klar einen Schutz für Kriegsdienstverweigerer vor der Ableistung eines Militärdienstes vorsehen.

3. Schließlich sollte eingeschritten werden, um die Sicherheit von Kriegsdienstverweigerern in der Haft in Aserbaidschan sicherzustellen, insbesondere von Bakhtiyar Hajiyev, der bereits misshandelt wurde und schrieb, dass sein körperliches und seelisches Wohlbefinden in Gefahr ist.

Sarah Paulsworth: Azerbaijan: Detention of Youth Activist Highlights Failure to Provide Alternative to Military Service. Jurist Legal News & Research, University of Pittsburgh – School of Law, 30. März 2011. Übersetzung: Rudi Friedrich. Quelle: http://jurist.org/dateline/2011/03/azerbaijan-detention-of-youth-activist-highlights-failure-to-provide-alternative-to-military-service.php. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2011

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