„Ich mache vom Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch“

An die Militärbehörden in Van, Türkei

von Inan Süver

(10.10.2009) Ich heiße Inan Süver. Mein Vater konnte mich erst vier Jahre nach meiner Geburt anmelden und einen Personalausweis besorgen, da er schmuggelte und arm war. Ich habe nachgeforscht, wann ich geboren bin: ohne Erfolg. Einige meinen, dass ich bei dem Erdbeben in Maradiye schon auf der Welt war, andere können sich nicht daran erinnern. Auf jeden Fall bin ich in dem Jahr des Erdbebens auf die Welt gekommen. Das Jahr hat aber 365 Tage und es gelang mir nicht, meinen Geburtstag herauszufinden oder ihn jemals zu feiern.

Aber nun zum wirklich wichtigen Thema: Sehr geehrte Mörder da draußen, ich konnte mich nie an Euch gewöhnen. Denn ich wusste von den Menschen, die nach dem Militärputsch am 12. September 1980 in den Folterkammern umgebracht wurden. Ich wusste von den Revolutionären, die für die Menschheit gekämpft haben und die Ihr an zahllosen Galgen aufgehängt habt. Ich wusste, dass Ihr meinen Onkel, der wegen seiner Arbeitslosigkeit von Schmuggelei lebte, umgebracht habt. Ich wusste von den Menschen, deren Dörfer Ihr zerstört habt und die ins Elend getrieben wurden. Ich wusste von dem Volk, dessen Sprache verboten wurde und das wegen Armut und weil es in einer Fremdsprache unterrichtet wurde, oft ohne Bildung überleben musste. Ich wusste von den Journalisten, die Ihr umgebracht habt. Ich wusste alles über die korrupten Wahlen. Ich wusste, dass dieses Land eines der korruptesten Länder der Welt bezüglich der Einkommensverteilung ist. Ich wusste, dass in diesem Land die Söhne von Ministerpräsidenten, Generalen oder Ministern keinen Militärdienst ableisten.

Ich wusste, dass Menschen gegeneinander aufgehetzt werden und sich dann töten, obwohl die Probleme unseres Landes dies nicht wert sind. Ich wusste, dass diejenigen, die Geld haben, mit Bestechung dem Militärdienst entkommen können, Söhne von Reichen keinen einzigen Tag als Soldat verbringen müssen, da sie sich vom Militärdienst freikaufen.

Wie könnte ich nur jemals ein Teil von Euch sein? Wie könnte ich neben Tyrannen leben?

Als einer von vielen Menschen in diesem Land, die Tag für Tag um Ihr Überleben kämpfen müssen, wollte ich Euch keine 17 Monate meines Lebens zur Verfügung stellen.

Ihr habt mich zum Militärdienst einberufen - ich bin nicht hingegangen! Dann wurde ich gezwungen und schließlich bin ich vom 23. August 2001 an bei der Armee gewesen.

Ihr habt mir weder Waffen noch eine Aufgabe als Wachposten gegeben. Auch wenn ich ein paar Mal am morgendlichen Appell teilgenommen habe: Es langweilte mich und das nächste Mal war ich nicht mehr anwesend. Das hat niemanden interessiert. Aber nach Eurer Wahrnehmung habe ich Ärger gesucht. Ich haute ab, doch ihr habt mich gefangen genommen und bestraft. Ich saß sieben Monate in einem Gefängnis und wurde gefoltert. Ihr wolltet mich nach Euren Maßstäben erziehen. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, Ihr habt es übertrieben, denn es ist Euch nicht gelungen. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch. Und plötzlich befand ich mich als Geisteskranker in Bakırköy in der Irrenanstalt.

Ich erwähnte bereits, dass der Charakter eines Menschen durch sein Leben geformt wird. Wenn ich all das durch Euch nicht erlebt hätte, würde ich vielleicht nicht die ganze Wahrheit sehen, Eure Grausamkeit und Hässlichkeit. Dann könnte ich Euch wohl weniger hassen. Aber ich danke Euch. Ich bin nun seit acht Jahren, zwei Monaten und 13 Tagen nicht mehr beim Militär und lebe versteckt.

In dieser Zeit konnte ich keinen einzigen Tag sozialversicherungspflichtig arbeiten, ich konnte keinen Führerschein machen und somit auch nie Auto fahren. Ich konnte aus Angst kein einziges Mal in das Gesicht eines Polizisten schauen. Jedes Mal, wenn ich einen Soldaten sah, wurde ich traurig. Es gab in der ganzen Zeit keinen Tag, an dem ich in der Nacht unbeschwert spazieren gehen konnte. Ich konnte auch keine Kneipe besuchen. Und jeden Morgen verabschiedete ich mich von meiner Ehefrau, den Kindern und unserem Haus, als ob es kein Morgen gäbe.

Freunde und Feinde nutzten diesen schrecklichen Zustand aus. Es gab Tage, an denen ich mich nicht mehr gegen Ungerechtigkeit gewehrt habe. Am Ende – ich glaube, dass sich der Richter vertan oder verrechnet hat – erhielt ich wegen siebenmaliger Desertion eine Gesamtstrafe von vier Jahren. Es hat mich nicht überrascht. Ich weiß, dass man in diesem Land härter bestraft wird, wenn man ein Brot stiehlt. Wir wissen auch von den Menschen, die allein wegen ihrer Gedanken im Gefängnis sitzen.

Sehr geehrte Kommandanten, ich will Euch heute etwas mitteilen. Ich habe gehört, dass es so etwas wie ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Ich mache von meinem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch. Sie sollen wissen, dass ich ein Feind des Staates bin. Sie sollen wissen, dass ich selbst gegen Sie niemals eine Waffe in die Hand nehmen werde. Denn ich weiß, dass das, was ich gerade geschrieben haben, Sie selbst wie eine Kugel treffen wird. Ich will lieber getötet werden, als selber zu töten.

Bitte schön, hier bin ich und dazu stehe ich.

Inan Süver sandte diese Erklärung am 10. Oktober 2009 an die zuständige Militärbehörde in Van. Eine Kopie schickte er und zugleich an www.savaskarsitlari.org und machte damit seine Erklärung öffentlich. http://www.savaskarsitlari.org/arsiv.asp?ArsivTipID=8&ArsivAnaID=54010. Übersetzung: Ali Avci. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2010

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